Phantasien / Tuor Ardez
27.07.23 – 05.08.23
Die Ausstellung «Phantasien» zeigt Nicolas Neumeiers grossformatige Ölmalerei der letzten zwei Jahre. Die abstrakten Gemälde inszenieren die Materialität der Leinwand und der Farbe in ihren dynamischen Qualitäten. Dabei reagiert er in der Formgebung auf die materiellen Bedingungen der Leinwand und der Ölfarbe sowie auf die unmittelbare Umgebung. Die Landschaft des Engadins ist Impulsgeber für die Intensität der Farbigkeit, die in der Farbpalette von dem Weiss des Schnees, des tiefblauen Wassers der Bergseen bis zu der Farbvielfalt der blühenden Wiesen reicht. Die Kompositionen reflektieren sowohl die scharf geometrischen Formen wie sie die Bergspitzen in die Himmel schneiden, als auch die organischen und fliessenden Bewegungen der Natur.
In dem Ölgemälde «Winterlandschaft» (2021) tritt das Weiss der schneereichen Winter dem tiefblauen Horizont entgegen. Die radikale Dualität, die das Gemälde, in der Zweiteilung der Leinwand aufspannt, wird verstärkt durch die vertikale Orientierung in der Hängung, die der klassischen Panoramaansicht widerspricht. Im Dialog dazu steht das Gemälde «Lago uno» (2022), das sich nicht nur durch den poetischen Titel auf das Wasser bezieht, sondern auch durch die vertikal verlaufende tiefblau-schwarze Spur. Der organische Verlauf kann auf die sich immer wandelnde Formwerdung des Wassers verweisen. Die formale Spaltung der Leinwand funktioniert in diesem Fall durch ein leuchtend rotes Farbband, das auch das intensive Blau bestärkt und hervorhebt.
Das Trio Rot, Weiss und Blau sorgt in Neumeiers Bildern wiederholt für eine intensive Farbkombination in abstrakter, aber auch figurativer Ausführung. In «Havarie» (2022) erzeugt der schnelle rote Pinselstrich den Eindruck, dass ein Schiff entweder im glühenden Abendrot auf dem Horizont auftritt oder lichterloh in Flammen steht. Die Trennung zwischen den Farbtönen erscheint durch das Rot, welches das Blau des Wassers durchdringt, allerdings weniger scharf als in den anderen Bildern. Trotz der Dramatik des Bildinhalts erzeugt das flächig aufgetragene Blau einen ausgleichenden Ruhepol. Die Gewalt des Wassers überträgt sich hingegen in dem Bild «Divided» (2022), das mit der scharf gezogenen weissen Linie durch die Bildmitte, die Zweiteilung der Leinwand im horizontalen Format aufgreift. Die Linie trennt die aufeinander zu steuernden dynamischen blauen Farbverläufe. Die Spachteltechnik macht durch die scharfen Abgrenzungen im Farbauftrag die Leinwand transparent und erzeugt weisse Glanzlichter, die wie Lichtreflektionen oder weisse Gischt auf einer Wasseroberfläche mit rauem Wellengang wirken. Die Spachteltechnik erzielt dabei einen reliefartigen Farbauftrag, der die Dramatik der Farbe durch die Lichteffekte noch verschärft.
Die Dynamik der Spachtel kann aber auch die Auflösung der scharfen Konfrontation dieser Farbkombination bewirken. In dem Ölgemälde «Fear and Hope» (2022) abstrahieren helle Verläufe durch den grosszügigen Auftrag weisser Farbe die strenge Struktur der Trikolore. Nur scheinbar monoton erscheint auch die monochrome weisse Farbfläche im Bild «Glückseligkeit» (2021). Die gespachtelte Struktur des Farbauftrags offenbart die Wirkung des Lichts in einer Absolutheit. Der minimalistische Stil zeigt die Flexibilität und Spannbreite in seinem Schaffen auf.
Die Malerei von Nicolas Neumeier reflektiert im Einsatz der Farben nicht nur die Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft, sondern aktiviert durch die haptischen Qualitäten der Materialien und Techniken auch alle Sinne. In der Abstraktion der überwältigenden Naturerfahrung generieren die Bilder eine Reflexionsfläche und neue Aufmerksamkeit für die Rezeption der umliegenden Natur im Unterengadin.
Dr. Stefanie Proksch-Weilguni
Kunsthistorikerin
Die Werke der Ausstellung “ Phantasien“ befinden sich momentan als temporäre Leihgabe im Hochalpinen Institut Ftan.